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Warum wir es uns nicht leisten können, unpolitisch zu sein. “Opa Jochens Erinnerung” #bl

Die Antwort ist relativ simpel: weil es 5 nach 12 ist. Weil es inzwischen wieder salonfähig geworden ist auf offener Straße den Hitlergruß zu zeigen und lauthals “Absaufen! Absaufen!” zu skandieren. Weil Stammtischparolen, bei denen uns vor ein paar Jahren noch die Ohren schlackerten jetzt auf einmal in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind und unser lieber Herr Maaßen Hetzjagden so gut es nur geht relativiert. Und weil die AfD im DeutschlandTrend aktuell zweitstärkste Kraft ist und darüber fantasiert, wie es wohl wäre die Macht in Deutschland zu übernehmen und das “System” zu stürzen.

Jetzt ist nicht mehr die Zeit zu sagen “Aber ich bin ja nicht rechts und ich denke auch nicht so.“, sondern mal die Klappe aufzumachen und klar zu zeigen, dass man anders denkt, als diese Leute. Das man nicht der Meinung ist, dass alle Ausländer kriminelle sind. Und das das, was als “Alternative” angepriesen wird und massenhaft Wähler abgreift eine verdammt rechte Partei ist, die sich nicht dafür schämt mit Nazis auf die Straße zu gehen. Deswegen haben die Fashionchangers die Gruppe “Blogger gegen Rechts“ ins Leben gerufen und eine Blogreihe initiiert, in der in den kommenden Wochen zahlreiche Beiträge von Bloggern online gehen werden (wer alles dabei it, lest ihr am Ende des Artikels). Wichtig ist, dass wir nicht nur gegen rechts sind, sondern für eine offene und bunte Gesellschaft ohne Hass. Heute bin ich mit meinem Artikel dran und ich habe echt lange überlegt, was ich schreiben soll (weswegen dieser Artikel gerade auch erst nach 22:00 online geht und morgen erst mit Bildern bestückt wird).

Hauptsächlich, weil ich nicht verstehe, was in den Köpfen dieser Menschen abgeht und das Gefühl habe, dass doch alles schon gesagt ist. Und vielleicht besser gesagt wurde, als ich es hier in Worte fassen kann. Das ich hier die hundertste oder tausendste Plattitüde zu dem Thema schreibe. Vielleicht wird’s die auch, aber vielleicht lest ihr ja trotzdem bis zum Ende.

Ich kann verstehen, dass die aktuelle politische Lage zum Teil wirklich zum Haare raufen ist und die etablierten Parteien streckenweise mehr enttäuschen, als abliefern. Aber das ist kein Grund dieser Partei in die Arme zu laufen. Diese Partei ist nämlich nicht mehr die harmlose, europaskeptische Protestpartei, als die sie sich lange Zeit verkauft hat. Das weiß man spätestens, seitdem sie in Chemnitz in einer Reihe mit waschechten Nazis ihren “Trauermarsch” abgehalten haben.

Ich habe das Gefühl, dass man an viele dieser Menschen, die dieser Partei hinterherrennen, nicht mehr rankommt. Zumindest nicht mit Fakten. Denn sie glauben nichts mehr von dem, was die “Lügenpresse” schreibt und leben in ihrer eigenen Filterblase.Und das besorgt mich. Und ich will dagegen etwas tun, denn in meiner Familie haben beim letzten Mal recht wenige (oder sagen wir besser: niemand) etwas dagegen getan. Mein Ur-Ur-Großvater hat sogar gesagt, dass er die Machtergreifung begrüßt. Er sagte damals, dass von „niemand sonst die Sterilisationsgesetze der Reichsregierung mehr gebilligt werden als von mir, aber damit ist, wie ich immer betonen muß, nur erst ein Anfang gemacht“. Er war Naturwissenschaftler und hat sich unter anderem mit Rassentheorien befasst. Er war der Meinung, dass man eben nicht nur bei Pflanzen die Kranken ausmerzen muss, sondern eben auch unter Menschen. Man kann übrigens heute noch einen Apfel kaufen, der nach ihm benannt ist. Der Apfel schmeckt “saftig, süßsäuerlich und abhängig vom jeweiligen Standort edelaromatisch bis fad” und ist resistent gegen Mehltau und Schorf. Mein Ur-Ur-Großvater starb 1934.

Meine beiden Urgroßväter waren ein SS-Untersturmführer und ein Wehrmachtsbeamter. Mein Großvater mütterlicherseits – Opa Jochen – wurde am 25. Juli 1931 geboren. Als Junge schmetterte er Militärlieder und war in den Jugendorganisationen der NSDAP – wie man das eben so machte. Er kannte es ja nicht anders und beschrieb die Lieder und weiteren Propaganda-Instrumente später als “schmerzfreie Impfungen gegen die wiederstrebenden Kräfte der Vernunft“. Im Sommer 1940 jubelte er zusammen mit vielen anderen Stettinern den Rückkehrern des Frankreichfeldzuges zu. Krieg und Soldaten faszinierten ihn. Wenige Jahre später lag die Stadt in Trümmern, die Familie wurde aus Stettin vertrieben.

Nach einer anstrengenden Flucht begann er ein neues Leben in Norddeutschland, wo er meine Großmutter kennen und lieben lernte. Bis zu seinem Tod 2008 steckte er viel Arbeit in die Aufarbeitung seiner Geschichte. Wohl auch, weil er sich oft fragte, wohin sein Lebensweg geführt hätte, wenn das deutsche Reich weiterhin bestand gehabt hätte. Ich bin ehrlich gesagt froh, dass er das aktuelle Geschehen nicht mehr miterleben muss.

In seinen Aufzeichnungen aus dem Jahr 2006 findet sich unter anderem eine Anekdote aus seiner Jugend, die ihn, wie es scheint, nachhaltig umgetrieben hat. Als Kind im Nationalsozialismus wurde er nicht nur auf Plakaten, sondern auch in Kinderbüchern darauf gepolt, dass “der Jude” der Feind sei. Er beschreibt diese Darstellungen so:

“Ich erinnere mich daran, dass mir jedes Mal beim Sandalenkauf eine reich bebilderte, bunte Lektüre zugesteckt wurde. Gegen die Lektüre hatte meine Mutter nichts einzuwenden, zumal sie nichts kostete und ich sie gern las. Der erste Teil, das weiß ich noch, unterschied sich vom zweiten Teil unübersehbar. Er strotze im Gegensatz zur Anfangsstory vor Antsemitismus, dass es nur so krachte. ‘Krachte’, denn nichts blieb heil: der Jude machte alles kaputt ‘in diesem unserem Vaterlande’ und verdiente daher nichts als kaputt gemacht zu werden. Als jugendlicher Leser konnte man so richtig in Rage kommen, zumal das Gesicht des Juden ‘Fliegenpilz’ zum zuschlagen einlud – es sei denn man kannte einen Juden oder die Eltern hätten diese Lektüre zum Anlass genommen den Unsinn hinter diesen Behauptungen pädagogisch aufzudecken.

Daran hatte Mutter jedoch kein Interesse – Vater war weit weg und unsere Großeltern Spoth warfen nie einen Blick in meine Lektüre. So konnten jüdische Monster weiter in meiner Phantasie ihr Unheil in deutschen Landen treiben. Aber nein, da kam ja der Deutsche Michel in Gestalt Hitlers mit seinen braunen Kolonnen und die zogen das Fell den Bauern wieder an, das die Juden ihnen über die Ohren abgezogen hatten.

So ganz schien die Gefahr noch nicht gebannt gewesen zu sein von Juden übervölkert zu werden, denn Alfred Rosenbergs Judenfratzen geisterten auch im Plakatwald an Litfaßsäulen, so auch am Friedrichshofer Weg, schräg gegenüber der Wehrkreisverwaltung II, in der mein Vater zeitweilig vor 1940 arbeitete. Aufhetzerisch und drastisch wurde vom Propagandaministerium suggeriert wie mit dem Monster zu verfahren sei: es sollte erwürgt werden. Der Untertitel lautete ‘Judas, verrecke!’.

Ich weiß noch genau, dass ich meine Eltern damals fragte, was dieser Judas denn verbrochen habe. Seine Visage verhieß ja unvorstellbar schlimmes. Die Eltern unterhielten sich Plakat unabhängig. Vater fühlte sich wohl wegen meiner Frage genervt, knurrte mir eine undeutliche Antwort entgegen und ich merkte, dass ich besser daran täte, mein Mundwerk zu halten! Es kann schon sein, dass mein Vater meinte mir ging das gar nicht um das Judas-Monster, sondern um Aufmerksamkeit, weil niemand mit mir redete.

Bald sollte ich einer weiblichen Vertreterin dieses Monsterstamms Auge in Auge schräg gegenüber sitzen – und zwar auf der Heimfahrt von den Großeltern in der Straßenbahnlinie 1. Ich hatte mich schon gewundert, dass bei der Haltestelle ‘Breite Straße’ eine Frau mit deutlicher Distanz hinter der Schlange stand. Die Passagiere verteilten sich, wie zu erwarten, im leer gewordenen ersten Waggon, der weniger zu schaukeln pflegte, als der Anhänger.

Die mir unbekannte Frau stieg in ‘unseren’ Anhänger. Ihr Davidstern (‘Judenstern’) erregte meine Aufmerksamkeit, da zu damaliger Zeit jüdische Fahrgäste so selten waren, wie gute Schuhe bei Salamander. Anstatt sich zu setzen, blieb sie in Türnähe in Fahrtrichtung links stehen, sodass jeder einsteigende Fahrgast sie sehen konnte.

Zweierlei fiel mir bei dem stigmatisierten Gast auf: erstens der Davidstern und zweitens die Schönheit dieser schlicht gekleideten Person. Verblüfft war ich, dass sie so gar nicht gefährlich aussah und starke Ähnlichkeit mit unserer Mieterin hatte, Frau Grün. ‘Sollte die etwa auch….?!’ Doch diese Frage ist an den Haaren herbeigezogen.

[…]

Um 1980 fragte ich meine Mutter gezielt oder ganz beiläufig, ob sie sich noch an diese Szene mit der Jüdin im Straßenbahnwagen-Anhänger der Linie 1 erinnerte. Ergebnis: Fehlanzeige.

Fazit: was für mich zur Begebenheit wurde, blieb für sie eine Bagatelle.

Eine Redeweise und damit verbundene Denkungsart lautete in meiner Kindheit: ‘Das kannst du getrost vergessen!’ – ‘getrost’ vergessen.

Wie tröstlich und den Lebensmut stärkend, vergessen und zu verdrängen zu können; sonst hätten wohl längst die vielen Opfer uns Überlebende um den Schlaf und den Verstand gebracht!

Und zu den Toten zählen die 2000 Stetiger, die 1944 weggebombt und unter ihren Trümmern begraben blieben.

Sie folgten 1200 Stettiner Juden, die 1940 als erste aus unserem Volke aus dem Reichsgebiet nach Lublin deportiert wurden und dort im Arbeits- und Konzentrationslager zwecks “Sonderbehandlung” gebracht wurden.”

Ich glaube, dass mein Großvater das nie so wirklich “getrost vergessen” hat – ich erinnere mich noch an seine Schreie, wenn er mal wieder Nachts aus einem Alptraum aufschreckte. Ich glaube, die vielen Opfer und das “was wäre wenn” haben ihn oftmals um den Schlaf gebracht, wenn auch nicht um den Verstand.

Was ich aber finde, was diese Anekdote zeigt, ist Folgendes:

Es ist leicht etwas zu verteufeln, dass man nur aus den Medien und der Presse kennt, mit der man sich umgibt. Die “Alternative” für Deutschland hat sich für ihr Feindbild nicht die Juden, sondern die Geflüchteten ausgesucht, die ihrer Ansicht nach allesamt, “unsere” Frauen vergewaltigen, Menschen abstechen und sowieso alle kriminell sind.  Aus “Judas, verrecke!” ist “Absaufen! Absaufen!” geworden.

Was auffällt ist: dort, wo sowas am lautesten geschrieen wird, leben die wenigsten Ausländer. Vielleicht sollten diese Leute also mal diejenigen kennenlernen, die sie sie so verteufeln. Vielleicht fällt ihnen dann auch auf, dass die in der Regel (Idioten gibt’s bekanntlich überall) “gar nicht so gefährlich” sind, wie es ihnen eingetrichtert wurde, sondern innerlich wie äußerlich vielleicht sogar sehr schön sind.

Das reine Reden über diese namenlose Masse stumpft ab. Einzelne Schicksale von Menschen, von Familien, die geflohen sind, die hier in Sicherheit leben wollen, gehen an die Nieren. Gutes Beispiel dafür ist eine Episode aus der Panorama Dokumentation aus dem Jahr 2015, in der der Deutsch-Iraner Michel Abdollahi, das Nazi-Dorf Jamel besucht hat. Dort sitzt er zusammen mit dem Neonazi Sven Krüger an einem Tisch und sie unterhalten sich darüber, wie es wäre, wenn auch Geflüchtete nach Jamel kämen.

Michel Abdollahi: „Wie stehst du dazu was jetzt in Heidenau los ist?“


Sven Krüger: „Volkszorn. Kann passieren. Betrifft mich nicht.“

Michel Abdollahi: “Würdest du hier auch Sturm laufen, wenn man hier einen Container hinstellt?“

Sven Krüger: „Habe ich noch nicht darüber nachgedacht. Ich denke nicht, dass es so weit kommt.“

Michel Abdollahi: „Denken wir mal drüber nach.“

Sven Krüger: „Ich weiß nicht. So verbrannt wie wir sind von Namen her…” Michel Abdollahi: „Also wenn da eine Familie kommt, die Not hat..?“

Sven Krüger: „Das Problem ist, wenn man sie wirklich kennenlernt, kann man sie nicht hassen.“

Der öffentliche Dialog über Geflüchtete sollte also – im Idealfall – weggehen von Zahlen und dem Reden über eine diffuse Masse. Wir müssen diesen Menschen wieder ein Gesicht geben und sie sichtbar machen, anstatt über jeden Zwischenfall im Zusammenhang mit Migranten zu sprechen.

Und das betrifft nicht nur uns, als Einzelpersonen, sondern vielmehr auch die die Presse und die Politik. Es wird schließlich auch nicht über jeden Deutschen, der einen Deutschen abmurkst und jeden Deutschen, der jemanden sexuell missbraucht hat (was statistisch gesehen übrigens häufig im familiären oder engeren Umfeld stattfindet) oder haben könnte, berichtet. Dann wären die Nachrichten nämlich voll bis oben hin. Warum springt ihr, liebe Journalisten, über jedes Stöckchen, dass die AfD euch hinwirft, anstatt den Menschen die Angst zu nehmen, die sie haben?

Vielleicht wäre das zumindest ein Teil eines Lösungsansatzes. Ich weiß es nicht. Aber probieren könnte man’s ja mal.

Danke für’s mitlesen.

Weitere Beiträge aus unserer Reihe #bloggergegenrechts sind hier bereits online:

not another woman mag: “Diese Blogger*innen werden jetzt politisch” jaeckle und hoesle “WARUM WIR ES UNS NICHT LEISTEN KÖNNEN, UNPOLITISCH ZU SEIN! #BLOGGERGEGENRECHTS

… und auf diesen Blogs folgen in den kommenden Tagen und Wochen weitere Beiträge, auf die ich mich schon sehr freue:

Alf-Tobias Zahn von Grossvrtig Laura Mitulla von The Ognc Jenni Hauwehde von Mehr Als Grünzeug Bina Nöhr von Stryletz Maren Teichert von Minza Will Sommer Ester Rühe und Anna Kessel von Die Konsumentin Nina Lorenzen von Pink&Green Phoebe Nicette von Phoenomenal Franziska Schmid von Veggie Love Justine Siegler von Justine Kept Calm And Went Vegan Mia Marjanovic von heylilahey Peppermynta Mag Sophia Hoffmann, vegane Köchin und Bloggerin

WIE IHR #BLOGGERGEGENRECHTS UNTERSTÜTZEN KÖNNT: Verbreitet die Blogsposts, Artikel usw. in den sozialen Medien. Zeigt euren Freund*innen, dass wir wieder politischer werden müssen. Erhebt eure Stimme nicht nur online, sondern vor allem auch in der realen Welt da draußen. Kommentiert, liket und teilt, was das Zeug hält.

Fotocredits: Alf-Tobias Zahn, fotografiert von © René Zieger Phoebe Nicette, fotografiert von © Lydia Hersberger Vreni Jäckle, fotografiert von © Anna Steinert Franziska Schmid, fotografiert von © Grit Siwonia

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